Martha Tschickert (1888-1975)

Anna Marie Martha Küster wird am 1. August 1888 in einer Tuchmacherfamilie in Forst geboren und wächst gemeinsam mit ihren fünf jüngeren Geschwistern in Cottbus auf. Sie besucht dort die Volksschule und muss bereits ab 1902 zum Unterhalt der Familie beitragen. Martha arbeitet zunächst als Nopperin und später als Einnäherin in der Textilfabrik M. & O. Sommerfeld in Cottbus.

Am 17. September 1909 heiratet Martha den Weber Gustav Appelt, den sie auf der Arbeit kennengelernt hatte. Ihre Kinder Irma und Ella werden 1910 und 1913 geboren. Die Familie wohnt in der Wehrstraße 20 in Cottbus. Gustav ist in der SPD und im Deutschen Textilarbeiter-Verband (DTV) organisiert. Er muss wie alle anderen wehrfähigen Männer in den Weltkrieg ziehen und fällt am 15. April 1918. Da die Kriegerwitwen-Unterstützung für sie und ihre beiden Töchter nicht reicht, musste Martha wieder arbeiten gehen. Sie bekommt eine Stelle im Bekleidungsamt Cottbus zugewiesen.

Martha Appelt tritt im November 1918 in die USPD und in den DTV ein. Bei der Partei- und Gewerkschaftsarbeit lernt sie Ernst Tschickert kennen, der als USPD-Sekretär tätig ist. Sie heiratet am 24. Dezember 1919 in Cottbus und beziehen eine Wohnung in der Hainstraße 14, später in der Wehrstraße 5. Martha gehört wie ihr Mann Ernst dem Verband der Freidenker und dem Konsumverein an, sie engagiert sich des Weiteren in der Frauenbewegung und in der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Bei der Aufspaltung der USPD gehen die Eheleute Tschickert 1922 beide zur SPD zurück.

Einen beruflichen Neuanfang wagt Martha 1925 mit der Gründung ihres von daheim aus betriebenen Textil-Versandes, in dem Ernst zeitweise Geschäftsführer ist. 1929 zieht Familie Tschickert in eines der neuen Häuser des genossenschaftlichen Spar- und Bauvereins am Bahnhofsvorplatz in Spremberg. Der Umzug kommt zustande, da Ernst zu Beginn des Jahres in der Niederlausitzer Kleinstadt die halböffentliche Stelle des Arbeitersekretärs angenommen hatte. Martha betreibt weiter ihr Versandhaus und betätigt sich ehrenamtlich vor allem in der Frauenbewegung und in der AWO.

Nachdem Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wird, beginnt auch in Spremberg Schritt für Schritt die staatlich organisierte Verfolgung der politischen Gegner. Als ihr Mann und sechs weitere Verbündete im Sommer 1933 für zwei Monate in das Konzentrationslager Sonnenburg kommen, schicken Martha und die Frauen der Eingesperrten Lebensmittelpakete und gesammeltes Geld in dorthin. Als die anderen Männer nach acht Wochen entlassen werden, Ernst aber nicht, ist Martha sehr unglücklich. Von unerwarteter Seite kommt Hilfe. Nach einem Gespräch ihrer Freundin und langjährigen Kreistagsabgeordneten der SPD, Berta Jähnchen, mit dem deutsch-nationalen Landrat von Saher bewirkt dieser, dass Ernst Tschickert kurz vor seinem 44. Geburtstag freikommt.

Martha beteiligt sich aktiv an der illegalen Parteiarbeit der Widerstandsgruppe Lausitz, die 1933 gegründet und unter anderen von ihrem Mann geführt wird. In der gesamten Niederlausitz werden antifaschistische Flugblätter und Untergrundschriften der SPD wie der „Neue Vorwärts“ oder die „Sozialistische Aktion“, die mit Kurieren von der Exil-Leitung aus Prag kommen, verteilt. Der Kinderwagen der im Oktober 1934 geborenen Enkeltochter von Martha muss manches Mal als Transportmittel für diese Zeitungen herhalten. Auch an illegalen Treffen der verbotenen SPD nimmt Martha regelmäßig teil, am Schwansee bei Jamlitz, bei Otto Voigt in Proschim und am Treffen mit der Parteileitung im November 1934 in Tetschen-Bodenbach.

Am 13. Oktober 1935 werden zwei Mitglieder der Widerstandsgruppe, die sich unvorsichtig verhalten hatten, nach der Entgegennahme von illegalem Material durch Beamte der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Sachsen verhaftet. Wenige Tage später nimmt die Gestapo auch die anderen Verbündeten fest. Am 18. Oktober 1935, zwei Tage nach ihrem Mann, wird Martha Tschickert in ihrer Wohnung am Bahnhofsvorplatz 5 festgenommen. Sie wird am 6. April 1936 mit 15 anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe Lausitz in einem Massenprozess vom 5. Strafsenat des Kammergerichtes Berlin im Schwurgerichtssaal des Landgerichtes Cottbus wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“, also der Fortführung der SPD in der Niederlausitz, zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.

Martha verbüßt ihre Strafe im Zuchthaus Jauer in Schlesien. Danach wird sie als „Schutzhäftling“ mit der Nr. 263 erst im Konzentrationslager Lichtenburg und dann im Konzentrationslager Ravensbrück festgehalten. Nach insgesamt fünf Jahren und einem Monat kommt sie im November 1940 frei und wird in Slamen, wo sie fortan bei ihrer Tochter Ella Fellenberg lebt, unter Polizeiaufsicht gestellt. Durch die schwere Arbeit in der Spremberger Tuchfabrik Sinapius, zu der man sie zwangsverpflichte, ist sie oft krank. Mehrmals rettet sie eine Krankschreibung Dr. Fechners vor dem körperlichen Zusammenbruch. Ihre illegalen Tätigkeiten für die SPD setzt sie auch nach der Haft fort.1

Nach dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler wird Martha am 22. August 1944 bei der vom SS-Führer Himmler deutschlandweit angeordneten „Aktion Gewitter“ noch einmal für acht Tage in „Schutzhaft“ gesteckt. Durch die Gerichtsverfahren, Haftzeiten und Kriegshandlungen verliert Familie Tschickert ihr gesamtes Eigentum. Die beiden Töchter von Martha, Irma und Ella, helfen den Eltern während und nach der Haftzeit, so gut sie es mit ihren bescheidenen Mitteln können. Die von den Nationalsozialisten angewandte „Sippenhaftung“ führt dazu, dass die Schwiegersöhne Max Prohaska und Otto Fellenberg an die gefährlichsten Frontabschnitte des Zweiten Weltkrieges geschickt werden, wo sie beide zu Tode kommen.

Bereits Ende April 1945, nach der Einnahme Sprembergs durch die Rote Armee, geht eine Gruppe von sechs Frauen, unter ihnen Martha, daran, die zum Teil zertrümmerten Konsum-Verkaufsstellen aufzuräumen und die von der Sowjetarmee herangeschafften nötigsten Lebensmittel zu verteilen. Nachdem ihr Mann Ernst aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen zurückkehrt, können sich beide dem Wiederaufbau in Spremberg widmen. Martha kümmert sich vor allem um den Konsum, die Arbeit im Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) und gemeinsam mit Berta Jähnchen um den Aufbau der Volkssolidarität, einer Hilfsorganisation in der Tradition der Arbeiterwohlfahrt. In der Aktion „Rettet die Kinder“, die Martha federführend initiiert, können Weihnachten 1945 etwa 2.000 Spremberger Kinder mit Bekleidung, Süßigkeiten und Spielzeug beschenkt werden.

Familie Tschickert wohnt nach dem Krieg in der Heinrichsfelder Allee 10a und später im Windmühlenweg 8 auf dem Georgenberg. Auch politisch ist Martha weiter aktiv. Im Juni 1945 wird sie Gründungsmitglied der SPD in Spremberg und im Frühjahr 1946 nimmt sie an der Vereinigungskonferenz der SPD und KPD im Kreis und am Vereinigungsparteitag der SED in Berlin teil. Von 1946 bis 1950 ist Martha Stadtverordnete in ihrer Heimatstadt. Als anerkannte Kämpferin gegen den Faschismus gehört sie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) an und wird oft zu Veranstaltungen eingeladen, in denen sie zu ihren Erlebnissen im Zuchthaus und im Konzentrationslager berichtet. Jedes Jahr im September fährt Martha mit Berta Jähnchen zum Grab ihres früheren Verbündeten Paul Thomas in Trebendorf, wo sie vor den Schulkindern eine Gedenkrede halten und anschließend in der Schule über ihren Widerstandskampf gegen die Nazis sprechen.

Noch nach dem Krieg kommt für Martha die persönlich und familiär schwerste Zeit. Ihre Tochter Irma hatte den Verlust des Ehemannes nie verwunden und wird depressiv. Ihre Tochter Ella stirbt 1954 mit nur 41 Jahren. Ihr Mann Ernst wird aufgrund einer böswilligen Denunziation am 30. September 1949 in der Wohnung im Windmühlenweg 8 im Auftrag des russischen Geheimdienstes verhaftet. Anschließend wird Martha jahrelang im Unklaren über den Verbleib ihres Mannes gelassen. Alle Versuche, sein Schicksal aufzuklären, scheitern. Sie sucht Hilfe bei der VVN, bei der SED, bei mehreren Landesministern, bei der ihr persönlich bekannten Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR, Hilde Benjamin, und sie schreibt an den DDR-Botschafter in Moskau.

Erst 1954 erfährt Martha von den Geschwistern ihres Mannes aus West-Berlin, dass Ernst zu Weihnachten 1951 in einem sibirischen Straflager umgekommen war. Ebenfalls aus Westberlin kommt die Bestätigung für das, was in Spremberg schon länger unter den ehemaligen Parteigenossen der SPD gemutmaßt wurde: Der Kommunist und bekennende Stalinist Ernst Schichhold war Scuhld am Verschwinden Tschickerts. In der Sitzung der Parteikontrollkommission am 9. Juni 1956 erklärt Martha dem 1. Kreissekretär der SED Spremberg noch einmal sehr deutlich ihre Informationen zum Denunzianten Schichhold, muss aber versprechen, davon nichts in der Öffentlichkeit zu erzählen.

Marthas Lebenswerk wird in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR mehrfach gewürdigt. Sie erhält die Medaille „Kämpfer gegen den Faschismus“, die Goldene Nadel der Volkssolidarität, die Verdienstmedaille der DDR und weitere Partei- und Organisationsauszeichnungen. Als eine späte Rehabilitation der Familie Tschickert kann es angesehen werden, dass Martha 1968 den Vaterländischen Verdienstorden in Silber verliehen bekommt. Ein Jahr später wird sie in das Goldene Ehrenbuch der SED-Kreisleitung Spremberg zum 20. Jahrestag der DDR eingetragen.

Ab 1957 wohnt Martha am Thälmannplatz 21 (zwischenzeitliche Bezeichnung vom Bahnhofsvorplatz), nicht weit entfernt von der Wohnung, die sie mit ihrem Mann Ernst am Anfang in Spremberg bezogen hatte. Sie stirbt mit 86 Jahren am 16. Januar 1975 in Spremberg. Die Trauerfeier findet fünf Tage später auf dem Waldfriedhof statt.

Martha Tschickert ist ein besonders tragisches politisches Opfer des 20. Jahrhunderts, da sie von den Nationalsozialisten verfolgt und ihr danach durch die Stalinisten, die im Osten Deutschlands herrschten, der Ehemann genommen wurde.

  1. Vgl. Hans-Reiner Sandvoß: Mehr als eine Provinz! Widerstand aus der Arbeiterbewegung 1933-1945 in der preußischen Provinz Brandenburg, Berlin 2019, 194.
Martha Tschickert 1961Martha Tschickert 1961

kurz-Biografie

01.08.1888Geburt – in Forst
ab 1902Arbeit in Textilfabrik in Cottbus
17.09.1909Eheschließung – mit Gustav Appelt
28.06.1910Geburt – von Tochter Irma
06.01.1913Geburt – von Tochter Ella
15.04.1918Todestag – des Ehemannes Gustav

Verbundene Personen

Tschickert, ErnstEhemann, Verbündeter
Frömter, OttoVerbündeter
Greischel, KurtVerbündeter
Jänchen, BertaVerbündete
Kubo, RichardVerbündeter

Verbundene Orte

BahnhofsvorplatzWohnort, zukünftiger STOLPERSTEIN
Martha Tschickert 1961Martha Tschickert 1961

kurz-Biografie

01.08.1888Geburt – in Forst
ab 1902Arbeit in Textilfabrik in Cottbus
17.09.1909Eheschließung – mit Gustav Appelt
28.06.1910Geburt – von Tochter Irma
06.01.1913Geburt – von Tochter Ella
15.04.1918Todestag – des Ehemannes Gustav

Anna Marie Martha Küster wird am 1. August 1888 in einer Tuchmacherfamilie in Forst geboren und wächst gemeinsam mit ihren fünf jüngeren Geschwistern in Cottbus auf. Sie besucht dort die Volksschule und muss bereits ab 1902 zum Unterhalt der Familie beitragen. Martha arbeitet zunächst als Nopperin und später als Einnäherin in der Textilfabrik M. & O. Sommerfeld in Cottbus.

Am 17. September 1909 heiratet Martha den Weber Gustav Appelt, den sie auf der Arbeit kennengelernt hatte. Ihre Kinder Irma und Ella werden 1910 und 1913 geboren. Die Familie wohnt in der Wehrstraße 20 in Cottbus. Gustav ist in der SPD und im Deutschen Textilarbeiter-Verband (DTV) organisiert. Er muss wie alle anderen wehrfähigen Männer in den Weltkrieg ziehen und fällt am 15. April 1918. Da die Kriegerwitwen-Unterstützung für sie und ihre beiden Töchter nicht reicht, musste Martha wieder arbeiten gehen. Sie bekommt eine Stelle im Bekleidungsamt Cottbus zugewiesen.

Martha Appelt tritt im November 1918 in die USPD und in den DTV ein. Bei der Partei- und Gewerkschaftsarbeit lernt sie Ernst Tschickert kennen, der als USPD-Sekretär tätig ist. Sie heiratet am 24. Dezember 1919 in Cottbus und beziehen eine Wohnung in der Hainstraße 14, später in der Wehrstraße 5. Martha gehört wie ihr Mann Ernst dem Verband der Freidenker und dem Konsumverein an, sie engagiert sich des Weiteren in der Frauenbewegung und in der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Bei der Aufspaltung der USPD gehen die Eheleute Tschickert 1922 beide zur SPD zurück.

Einen beruflichen Neuanfang wagt Martha 1925 mit der Gründung ihres von daheim aus betriebenen Textil-Versandes, in dem Ernst zeitweise Geschäftsführer ist. 1929 zieht Familie Tschickert in eines der neuen Häuser des genossenschaftlichen Spar- und Bauvereins am Bahnhofsvorplatz in Spremberg. Der Umzug kommt zustande, da Ernst zu Beginn des Jahres in der Niederlausitzer Kleinstadt die halböffentliche Stelle des Arbeitersekretärs angenommen hatte. Martha betreibt weiter ihr Versandhaus und betätigt sich ehrenamtlich vor allem in der Frauenbewegung und in der AWO.

Nachdem Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wird, beginnt auch in Spremberg Schritt für Schritt die staatlich organisierte Verfolgung der politischen Gegner. Als ihr Mann und sechs weitere Verbündete im Sommer 1933 für zwei Monate in das Konzentrationslager Sonnenburg kommen, schicken Martha und die Frauen der Eingesperrten Lebensmittelpakete und gesammeltes Geld in dorthin. Als die anderen Männer nach acht Wochen entlassen werden, Ernst aber nicht, ist Martha sehr unglücklich. Von unerwarteter Seite kommt Hilfe. Nach einem Gespräch ihrer Freundin und langjährigen Kreistagsabgeordneten der SPD, Berta Jähnchen, mit dem deutsch-nationalen Landrat von Saher bewirkt dieser, dass Ernst Tschickert kurz vor seinem 44. Geburtstag freikommt.

Martha beteiligt sich aktiv an der illegalen Parteiarbeit der Widerstandsgruppe Lausitz, die 1933 gegründet und unter anderen von ihrem Mann geführt wird. In der gesamten Niederlausitz werden antifaschistische Flugblätter und Untergrundschriften der SPD wie der „Neue Vorwärts“ oder die „Sozialistische Aktion“, die mit Kurieren von der Exil-Leitung aus Prag kommen, verteilt. Der Kinderwagen der im Oktober 1934 geborenen Enkeltochter von Martha muss manches Mal als Transportmittel für diese Zeitungen herhalten. Auch an illegalen Treffen der verbotenen SPD nimmt Martha regelmäßig teil, am Schwansee bei Jamlitz, bei Otto Voigt in Proschim und am Treffen mit der Parteileitung im November 1934 in Tetschen-Bodenbach.

Am 13. Oktober 1935 werden zwei Mitglieder der Widerstandsgruppe, die sich unvorsichtig verhalten hatten, nach der Entgegennahme von illegalem Material durch Beamte der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Sachsen verhaftet. Wenige Tage später nimmt die Gestapo auch die anderen Verbündeten fest. Am 18. Oktober 1935, zwei Tage nach ihrem Mann, wird Martha Tschickert in ihrer Wohnung am Bahnhofsvorplatz 5 festgenommen. Sie wird am 6. April 1936 mit 15 anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe Lausitz in einem Massenprozess vom 5. Strafsenat des Kammergerichtes Berlin im Schwurgerichtssaal des Landgerichtes Cottbus wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“, also der Fortführung der SPD in der Niederlausitz, zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.

Martha verbüßt ihre Strafe im Zuchthaus Jauer in Schlesien. Danach wird sie als „Schutzhäftling“ mit der Nr. 263 erst im Konzentrationslager Lichtenburg und dann im Konzentrationslager Ravensbrück festgehalten. Nach insgesamt fünf Jahren und einem Monat kommt sie im November 1940 frei und wird in Slamen, wo sie fortan bei ihrer Tochter Ella Fellenberg lebt, unter Polizeiaufsicht gestellt. Durch die schwere Arbeit in der Spremberger Tuchfabrik Sinapius, zu der man sie zwangsverpflichte, ist sie oft krank. Mehrmals rettet sie eine Krankschreibung Dr. Fechners vor dem körperlichen Zusammenbruch. Ihre illegalen Tätigkeiten für die SPD setzt sie auch nach der Haft fort.1

Nach dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler wird Martha am 22. August 1944 bei der vom SS-Führer Himmler deutschlandweit angeordneten „Aktion Gewitter“ noch einmal für acht Tage in „Schutzhaft“ gesteckt. Durch die Gerichtsverfahren, Haftzeiten und Kriegshandlungen verliert Familie Tschickert ihr gesamtes Eigentum. Die beiden Töchter von Martha, Irma und Ella, helfen den Eltern während und nach der Haftzeit, so gut sie es mit ihren bescheidenen Mitteln können. Die von den Nationalsozialisten angewandte „Sippenhaftung“ führt dazu, dass die Schwiegersöhne Max Prohaska und Otto Fellenberg an die gefährlichsten Frontabschnitte des Zweiten Weltkrieges geschickt werden, wo sie beide zu Tode kommen.

Bereits Ende April 1945, nach der Einnahme Sprembergs durch die Rote Armee, geht eine Gruppe von sechs Frauen, unter ihnen Martha, daran, die zum Teil zertrümmerten Konsum-Verkaufsstellen aufzuräumen und die von der Sowjetarmee herangeschafften nötigsten Lebensmittel zu verteilen. Nachdem ihr Mann Ernst aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen zurückkehrt, können sich beide dem Wiederaufbau in Spremberg widmen. Martha kümmert sich vor allem um den Konsum, die Arbeit im Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) und gemeinsam mit Berta Jähnchen um den Aufbau der Volkssolidarität, einer Hilfsorganisation in der Tradition der Arbeiterwohlfahrt. In der Aktion „Rettet die Kinder“, die Martha federführend initiiert, können Weihnachten 1945 etwa 2.000 Spremberger Kinder mit Bekleidung, Süßigkeiten und Spielzeug beschenkt werden.

Familie Tschickert wohnt nach dem Krieg in der Heinrichsfelder Allee 10a und später im Windmühlenweg 8 auf dem Georgenberg. Auch politisch ist Martha weiter aktiv. Im Juni 1945 wird sie Gründungsmitglied der SPD in Spremberg und im Frühjahr 1946 nimmt sie an der Vereinigungskonferenz der SPD und KPD im Kreis und am Vereinigungsparteitag der SED in Berlin teil. Von 1946 bis 1950 ist Martha Stadtverordnete in ihrer Heimatstadt. Als anerkannte Kämpferin gegen den Faschismus gehört sie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) an und wird oft zu Veranstaltungen eingeladen, in denen sie zu ihren Erlebnissen im Zuchthaus und im Konzentrationslager berichtet. Jedes Jahr im September fährt Martha mit Berta Jähnchen zum Grab ihres früheren Verbündeten Paul Thomas in Trebendorf, wo sie vor den Schulkindern eine Gedenkrede halten und anschließend in der Schule über ihren Widerstandskampf gegen die Nazis sprechen.

Noch nach dem Krieg kommt für Martha die persönlich und familiär schwerste Zeit. Ihre Tochter Irma hatte den Verlust des Ehemannes nie verwunden und wird depressiv. Ihre Tochter Ella stirbt 1954 mit nur 41 Jahren. Ihr Mann Ernst wird aufgrund einer böswilligen Denunziation am 30. September 1949 in der Wohnung im Windmühlenweg 8 im Auftrag des russischen Geheimdienstes verhaftet. Anschließend wird Martha jahrelang im Unklaren über den Verbleib ihres Mannes gelassen. Alle Versuche, sein Schicksal aufzuklären, scheitern. Sie sucht Hilfe bei der VVN, bei der SED, bei mehreren Landesministern, bei der ihr persönlich bekannten Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR, Hilde Benjamin, und sie schreibt an den DDR-Botschafter in Moskau.

Erst 1954 erfährt Martha von den Geschwistern ihres Mannes aus West-Berlin, dass Ernst zu Weihnachten 1951 in einem sibirischen Straflager umgekommen war. Ebenfalls aus Westberlin kommt die Bestätigung für das, was in Spremberg schon länger unter den ehemaligen Parteigenossen der SPD gemutmaßt wurde: Der Kommunist und bekennende Stalinist Ernst Schichhold war Scuhld am Verschwinden Tschickerts. In der Sitzung der Parteikontrollkommission am 9. Juni 1956 erklärt Martha dem 1. Kreissekretär der SED Spremberg noch einmal sehr deutlich ihre Informationen zum Denunzianten Schichhold, muss aber versprechen, davon nichts in der Öffentlichkeit zu erzählen.

Marthas Lebenswerk wird in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR mehrfach gewürdigt. Sie erhält die Medaille „Kämpfer gegen den Faschismus“, die Goldene Nadel der Volkssolidarität, die Verdienstmedaille der DDR und weitere Partei- und Organisationsauszeichnungen. Als eine späte Rehabilitation der Familie Tschickert kann es angesehen werden, dass Martha 1968 den Vaterländischen Verdienstorden in Silber verliehen bekommt. Ein Jahr später wird sie in das Goldene Ehrenbuch der SED-Kreisleitung Spremberg zum 20. Jahrestag der DDR eingetragen.

Ab 1957 wohnt Martha am Thälmannplatz 21 (zwischenzeitliche Bezeichnung vom Bahnhofsvorplatz), nicht weit entfernt von der Wohnung, die sie mit ihrem Mann Ernst am Anfang in Spremberg bezogen hatte. Sie stirbt mit 86 Jahren am 16. Januar 1975 in Spremberg. Die Trauerfeier findet fünf Tage später auf dem Waldfriedhof statt.

Martha Tschickert ist ein besonders tragisches politisches Opfer des 20. Jahrhunderts, da sie von den Nationalsozialisten verfolgt und ihr danach durch die Stalinisten, die im Osten Deutschlands herrschten, der Ehemann genommen wurde.

  1. Vgl. Hans-Reiner Sandvoß: Mehr als eine Provinz! Widerstand aus der Arbeiterbewegung 1933-1945 in der preußischen Provinz Brandenburg, Berlin 2019, 194.

Verbundene Personen

Tschickert, ErnstEhemann, Verbündeter
Frömter, OttoVerbündeter
Greischel, KurtVerbündeter
Jänchen, BertaVerbündete
Kubo, RichardVerbündeter

Verbundene Orte

BahnhofsvorplatzWohnort, zukünftiger STOLPERSTEIN

Quellenangaben

FSB-Zentralarchiv und RGWA-Archivs in Moskau:

  • Häftlingsunterlagen zu Ernst Tschickert.

Bundesarchiv Berlin

Brandenburgischen Landeshauptarchiv

Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in München

Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft in Dresden

Heidemuseums des Landkreises Spree-Neiße Spremberg

Stadtarchiv Spremberg

Sekundärliteratur:

  • Siegfried Mielke und Stefan Heinz (Corinne Kaszner), Gewerkschafter in den Konzentrationslagern Oranienburg u. Sachsenhausen. Biografisches Handbuch, Band 4.
  • Hans-Reiner Sandvoß: Mehr als eine Provinz! Widerstand aus der Arbeiterbewegung 1933-1945 in der preußischen Provinz Brandenburg, Berlin 2019.
  • Heimatkalender Spremberg 2010 und 2024, Ernst Tschickert von Andreas Lemke.

Befragungen von Familienangehörigen und Zeitzeugen in Spremberg