Nathan Bernfeld (1872-1950)

Nathan Bernfeld kommt am 17. Mai 1872 in Svitavka/Mähren (heute Tschechien) als Sohn von Jacob Bernfeld und dessen Ehefrau Katharina geb. Hoffmann zur Welt. Er wächst mit mindestens sechs Geschwistern auf.

Über seinen Werdegang berichtet er selbst:

„In diesem Ort besuchte ich von meinem 6.-10. Lebensjahre die Dorfschule und von meinem 10.-14. Lebensjahre die deutsche Oberrealschule in Brünn. Im September 1886 wurde ich als Lehrling in der Tuchfabrik Moses Löw-Beer in Svitavka aufgenommen. Dort erlernte ich das Lumpensortieren und das Lumpenreißen. Im Jahre 1897 wurde ich von dieser Firma nach Sagan/Schlesien, die dort ein großes Unternehmen hatte, versetzt, um hier die Lumpensortiererei und Reißerei einzurichten. Während meiner dortigen Tätigkeit besuchte ich den Abendkursus der Webschule, um mich in der Weberei weiterzubilden.“ (Quelle 1)

Nathan arbeitet sich vom Lumpenreißer nach oben. Als er 36 Jahre alt ist, wird er Direktor der Vereinigten Märkischen Tuchfabriken in Luckenwalde. Dort lernt er auch seine zukünftige Ehefrau Ellen Hanisch kennen. Am 19. März 1932 heiraten Ellen und er in Berlin-Wilmersdorf. Vier Monate später wird die NSDAP zur stärksten Partei Deutschlands gewählt. Nathan ist zu diesem Zeitpunkt fast 50 Jahre alt, Ellen ist 34. Sie zieht zu Nathan nach Spremberg in die Georgenstraße 8. Nathan lebt schon seit sieben Jahren hier. Erst war er Direktor bei der Tuchfabrik Schnabl (Familie Schnabl hatte er in Sagan kennengelernt), nun ist er Direktor der Tuchfabrik Michelsohn & Ascher, die von Siegfried Kraus geführt wird. Siegfried Kraus stirbt 1937 plötzlich nach einem Nervenzusammenbruch unter dem Druck des NS-Regimes. Da sein Sohn Werner noch zu jung ist, veranlasst die Familie, dass Nathan Gesellschafter der Fabrik wird. Briefe von Werner Kraus sind eine wichtige Quelle über Nathans Leben. Nach dem Tod seines Vaters schreibt Werner:

„Es ist geplant: Bernfeld tritt als persönlich haftender Gesellschafter ein, und legt einiges Kapital mit an. […] Herr Bernfeld ist augenblicklich Leiter nach aussenhin, in Wirklichkeit nur mit mir zusammen[. …] Ich sehe die Zukunft gar nicht schwarz, ich glaube, durch gute Zusammenarbeit mit Herrn Bernfeld die Fabrik ganz gut zu leiten.“ (Quelle 2)

1937/38 reist Nathan im Zuge seiner Geschäfte mehrfach in die Schweiz. Auszuwandern scheint ihm dabei keine Option. Ab Januar 1938 dürfen „Arier“ in der mittlerweile „nichtarischen“ Tuchfabrik Michelsohn & Ascher nicht mehr einkaufen. Das würde einen Umsatzrückgang von 40% bedeuten. Dazu schreibt Werner:

„Wir führen augenblicklich einen Kampf mit dem Vorstand der [Arbeitsgemeinschaft Deutsch-Arischer Fabrikanten], um als Auslandsbetrieb anerkannt zu werden. Da Herr Bernfeld, der tschechoslowakischer Staatsangehöriger ist, als persönlich haftender Gesellschafter sozusagen als Inhaber der Firma gilt, ist es sehr leicht möglich, daß wir mit dem Antrag durchkommen. […] Herr Bernfeld hat sich schon mit seiner Botschaft in Verbindung gesetzt, die sofort beim Auswärtigen Amt wegen dieser Sache Einspruch erhoben hat, da es sich in diesem Falle um den Boykott eines tschechoslowakischen Staatsbürgers handelt. Was aber werden wird, weiß niemand. Wir wissen selber nicht mehr, wie wir uns verhalten sollen, denn was sich so tut...“ (Quelle 3)

Einen Monat vor der Reichspogromnacht 1938 soll die Tuchfabrik in Ludwig Sinapius einen neuen Gesellschafter bekommen, Nathan soll angeblich im Laufe von fünf Jahren ausbezahlt werden. Das Geld wird er nie erhalten. Zur Nacht des 9. Novembers 1938 schildert Nathan Bernfeld seine Erinnerungen:

„An dem berühmten 9. November 1938 kamen nachts gegen 2 Uhr ca. 15 halbwüchsige Hitlerjungen im Alter zwischen 12-19 Jahren in meine Wohnung in der Georgenstraße und forderten mich und meine Frau, die Arierin ist, auf, sämtliche Haus-, Wohnungs- und Schrankschlüssel etc. an sie abzugeben und die Wohnung sofort zu verlassen. Auf meine Rückfrage nach einem Ausweis, auf Grund welcher Anordnung das geschehen soll, wurde mir zur Antwort gegeben „auf höheren Befehl“, die Polizei wüsste Bescheid. Auf meinen Anruf bei der Polizei, was die Maßnahme zu bedeuten hätte, antwortete mir der Beamte, dass er davon absolut nichts wüsste. Ich übergab den Telefonhörer dem Hitlerjungen und dieser sagte dem Polizeibeamten, die Aktion geschehe auf höheren Befehl. Darauf riet mir der Beamte, dem Befehl zu gehorchen. Ich ging daher mit meiner Frau zur Polizei, wo mir gesagt wurde; dass ich für diese Nacht keine Unterkunft in einem Hotel etc. bekommen könnte, weshalb meine Frau und ich die Nacht im Büro der Firma Michelsohn & Ascher verbringen wollten. Als wir im Büro ankamen, läutete das Telefon, und es wurde mir von der Polizei mitgeteilt, dass wir zurückkommen könnten, da in meinem Falle ein Versehen vorliegt, da wir Ausländer d.h. tschechische Staatsangehörige sind. Die Schlüssel wurden mir wieder übergeben.“ (Quelle 1)

Am nächsten Morgen wird Nathan und Werner plötzlich der Zugang zur Fabrik verwehrt. Dazu schreibt Werner:

„Als wir früh in den Betrieb kamen, wurde uns der Zutritt zu demselben verweigert, von Seiten des „Obmannes“ Weiermüller und seinen Helfershelfern mit der Begründung, der Kreisleiter hätte den Betrieb beschlagnahmt und einen Treuhänder eingesetzt. So gingen wir dann wieder nach Hause, da wir ja nichts machen konnten. Als „Treuhänder“ wurde der größte Tagedieb von Spremberg, ein gewisser Rudolf Bär, Sohn des Schokoladen-Bär, eingesetzt, der sich zunächst mal eine Vergütung von RM 40.000. - auszahlen ließ, und dann lustig anfing zu liquidieren. […] Das Grundstück und die Gebäude mußten wir für RM 100.000. […] verkaufen, das Geld haben wir aber nie gesehen, es wurde angeblich zu[r] Abdeckung der Judenabgabe verwendet. […] Ich selbst wurde dann noch wegen meiner Zusammenarbeit mit Bernfeld vor das Ehren- und Disziplinargericht der DAF zitiert, die mir noch gern einen Strick gedreht hätten, indem sie mich auf einmal als Arier hinstellten, der mit Juden zusammengearbeitet und sich damit strafbar gemacht hätte. Jedoch klappte die Sache nicht so wie sich die Idioten das dachten, und ich bekam einen Freispruch wegen Mangel an Beweisen.“ (Quelle 4)

Das ist erst der Beginn der Schikane. Nathan berichtet weiterhin:

„Nach einigen Monaten wurde mir das Telefon gesperrt. Ferner kam eines Mittags die Polizei vorgefahren und holte meinen Radioapparat ab. Später musste ich meinen Hund sowie meinen Kanarienvogel abgeben. Wiederum nach einigen Monaten meine sämtlichen elektrischen Geräte, sogar das Bügeleisen.“ (Quelle 1)

Zu dieser Zeit kündigt ihm seine Vermieterin an, dass er aufgrund „der Verhältnisse“, wie sie es nennt, seine Wohnung in der Georgenstraße verlassen soll. Die Bernfelds wollen dem nachkommen, müssen aber feststellen, dass ihnen weder in Spremberg noch in Cottbus jemand eine andere Wohnung vermieten möchte. Sie überlegen, Spremberg ganz hinter sich zu lassen, aber erst will Nathan die Geschäfte in der Tuchfabrik ordentlich abwickeln. Noch hat er Hoffnung, dass Werner und er angemessen entschädigt werden. Die Vermieterin will das Ehepaar schließlich auf die Straße setzen. Nathan richtet sich hilfesuchend an den jüdischen Rechtsanwalt Hammerschmidt in Cottbus, der ihm noch eine Schutzfrist erwirken kann. Schließlich ergibt sich als einzige mögliche Bleibe die Pfortenstraße 8 bei Tuchfabrikant Heinze (heute ist das die Nr. 13). Dazu Bernfeld:

Es waren „durchaus unzureichende und ungesunde Leerzimmer, ohne Küche, ohne Herd, ohne Wasserleitung etc. […] Alle in dieser Wohnung nicht unterzubringenden Möbel wurden auf einem Speicher […] eingelagert. Einige Monate später wurde die Beschlagnahme dieser Möbel ausgesprochen.“ (Quelle 1)

Ab Herbst 1941 ist Nathan verpflichtet den gelben „Judenstern“ an seiner Kleidung zu tragen. Der Spremberger Klaus Rebelsky erinnert sich deshalb an eine Begegnung mit Nathan Bernfeld:

„Wir marschierten als Pimpfe auf dem ehemaligen Bahndamm am Ende der Bergstraße und uns kam ein älterer Herr entgegen, der an seinem Anzug den gelben Stern mit der Aufschrift 'Jude' trug. Der Pimpfenführer ließ uns in 6er Reihe ausschwärmen, womit wir den ganzen Bahndamm einnahmen und der alte Mann auf den Abhang herunter treten mußte, während wir das Lied vom Judenblut, das spritzen sollte, grölten. Das war 1942.“ (Quelle 5)

Nathan verliert schließlich seine tschechische Staatsangehörigkeit. Er schildert folgendes Geschehen:

„Im Januar 1942 kamen eines Tages vier Beamte der Gestapo Frankfurt/O., durchsuchten die Wohnung und fanden 200 Zigaretten und einige Stückchen englische Toilettenseife, die sie mitnahmen. Kurz nach der Hausuntersuchung wurde ich nach Frankfurt berufen und dort wurde mir die Mitteilung gemacht, dass ich als Staatsfeind erklärt würde und mein Vermögen sowie das Vermögen meiner Gattin beschlagnahmt und eingezogen würde, so dass ich über Nacht vor dem Nichts stand. Auf meine Frage, wovon ich leben solle, sagte mir der betreffende Beamte, ich müsste arbeiten gehen. Darauf fragte ich, wer mich als 70 jährigen Mann einstellen würde und erhielt die Antwort, das wäre meine Sache. Nach meiner Rückkehr nach Spremberg ging ich zum Arbeitsamt und da mich meine Fachkollegen, Herr Tempel usw. nicht einstellen wollten und durften, musste ich die ausgeschriebene Stellung als Lumpensortierer bei der Firma E. Krause % Co., Rohprodukte in Spremberg am 30.3.1942 antreten mit einem Wochenlohn von RM 25.- netto.“ (Quelle 1)

Ellen schreibt:

„Wir haben nichts behalten dürfen; mein Mann bezog auch keine Lebensmittelkarte. Ich hungerte mit ihm gemeinsam.“ (Quelle 6)

Sie leiden Hunger. Ellen wird zeitweise ebenfalls zum Lumpensortieren oder im Gartenbau zur Arbeit verpflichtet. Nathan wird zwischendurch mehrfach für kurze Zeit grundlos verhaftet und aus der Arbeit entlassen und dann wieder aufgenommen. Schließlich soll auch Werner Kraus, dem die Fabrik seiner Familie genommen wurde, zur Arbeit bei Lumpen-Krause geschickt werden.

„[Ich sollte] zu Lumpen-Krause, Lumpen sortieren (Herr Bernfeld war schon dort) aber da hatte man Angst, daß ich mit Bernfeld staatsgefährliche Umtriebe machen könnte.“ (Quelle 7)

Was Nathan über die kommenden Kriegsjahre hinweg rettet, ist seine scheinbar unbeirrbare Ehefrau Ellen. Obwohl nicht-jüdische Ehepartnerinnen großem Druck ausgesetzt sind, zum Beispiel indem sie noch weniger Lebensmittelmarken erhalten, lässt sich Ellen nicht scheiden und Nathan bleibt unter dem Schutz der Ehe mit einer sogenannten Arierin. Später schreibt Ellen in einem Lebenslauf dazu:

„Ich hielt zu meinem Manne und bin fünf Mal zur Gestapo nach Frankfurt/Oder befohlen worden, um zu erzwingen, dass ich mich von meinem jüdischen Ehemanne scheiden lasse. Mein Mann war gut zu mir, ich hatte keine Veranlassung mich von ihm zu trennen und so habe ich von 1933 bis 1945 alle Qualen der Judenverfolgung an der Seite meines Mannes miterlebt.“ (Quelle 6)

Nathan erinnert sich, dass die Gestapo-Mitglieder zu seiner Frau sagten:

„Wenn sie auch der Jude versaut hat, wir machen wieder eine reindeutsche Frau aus ihnen.“

Und als sie standhaft blieb, drohten sie:

„Das werden Sie büßen.“ (Quelle 1)

Am 16. Februar 1945 steht nachmittags halb vier plötzlich die Kripo Spremberg vor Bernfelds Tür in der Pfortenstraße. Sie nehmen Nathan mit und bringen ihn in das letzte Berliner Sammellager in der Schulstraße 78. Er wird verprügelt und muss mit seinen 72 Jahren nun im schwer umkämpften Berlin beschädigte Dächer reparieren, Ziegelsteine schleppen und Abputzen. Werner Kraus schildert die letzten Kriegstage:

„[Bernfeld] war auch noch im Lager gewesen, war dann kurz vor dem Zusammenbruch glücklicherweise durch seine Frau dort aufgefischt worden und war zu Fuss von Luckenwalde bis hier her gelaufen.“ (Quelle 8)

Nach Kriegsende befinden sich nur nur ca. 1200 Spremberger*innen in Spremberg. Alle anderen sind geflohen. Auch Werner hat die letzten Kriegsjahre auf dem Land ausgeharrt. Als er im Mai 1945 nach Spremberg kommt, sind Bernfelds seine einzigen Bekannten dort. Ihnen wurde Wohnung im letzten noch stehenden Haus am Friedrich-Engels-Platz zugewiesen, der Nummer 5:

„[Ich] wurde auch sehr nett aufgenommen, und konnte dort wohnen und Frau B[ernfeld] kochte für mich mit. Ich hatte ja einige Lebensmittel aus Schl[ottwitz] mitgebracht und ging nun erst mal auf Kartoffeltour, was auch klappte, so dass wir jeden Abend pro Mann 4 Kartoffeln mit Salz essen konnten.“ (Quelle 8)

Als Werner sein eigenes Haus in der Drebkauer Straße wieder beziehen kann, bringt Nathan zur Einweihungsfeier Brot und Salz

„mit dem Wunsche, daß es in meinem Hause nie ausgehen möge, was ich als den besten Wunsch und Symbol betrachte.“ (Quelle 9)

Ein Jahr später bekommen Nathan und Werner Kraus den übriggebliebenen Trümmerhaufen, wie Werner es nennt, der Firma Michelsohn & Ascher wieder zugesprochen. Außerdem bemühen sie sich um eine Übernahme der Tuchfabrik Fr. Wilh. Heinze, deren Eigentümer als Kriegsverbrecher enteignet worden ist. Dort wird Nathan jedenfalls der erste Fabrikdirektor nach dem Krieg und ist maßgeblich am (Wieder-)Aufbau der Spremberger Textilwerke beteiligt. Ellen schreibt:

„Als anerkannter Fachmann setzte er sich mit all seinen ihm verbliebenen Kräften für den Wiederaufbau der zertrümmerten Tuchstadt Spremberg ein. (Quelle 6)

Aus der Armut schaffen sie es trotzdem nicht wieder heraus. Ihr eingezogenes Vermögen bekommen sie nicht zurückerstattet. Sie beantragen als Verfolgte des Naziregimes anerkannt zu werden. Zusammenfassend schreibt Ellen dazu:

„Wir beide sind ständig seit 1933 von der Polizei, insbesondere von der Gestapo Frankfurt/Oder schwer gedemütigt worden. Unaufhörliche Durchsuchungen, wiederholte Verhaftungen, völlig verarmt, von allen gemieden, verbrachten wir 12 schwere Jahre.“ (Quelle 6)

Es bürgen für sie der Bürgermeister der Stadt Spremberg, Richard Buder, Frau Maria Thümmel geb. Nakoinz, Dr. Werner Joel und Berthold Gäßner, Werner Kraus, Alwin Hartmann und Willi Barwisch. Sie alle sagen aus, dass das Paar viel ertragen musste und Ellen dabei immer zu Nathan hielt. Nathan wurden drei Schwestern, drei Brüder und sechs Neffen im Holocaust genommen.

In den Nachkriegsjahren erwähnt Werner die Eheleute Bernfeld nur noch im Zusammenhang mit schönen Erlebnissen:

„Neujahr [werde ich] wahrscheinlich mit Bernfelds in Bad Schandau [verleben], wo wir uns austoben wollen. [...] Nach meinem Geburtstag, mit nettem Essen und ausgezeichneter Stimmung war am 16. Januar Geburtstag bei Frau Bernfeld, der auch bis 5 Uhr dauerte. [...] Am 17. Mai hat Herr Bernfeld 75. Geburtstag, da wird auch allerhand los sein. Pfingsten habe ich in Schlottwitz verlebt, zusammen mit Bernfelds, die mitgekommen waren. Wir haben sehr nette Tage verbracht, zumal wir ausgezeichnetes Wetter hatten. [...] Bernfelds sind diese Woche in Schlottwitz, wo sie bei Lotte [meiner Verlobten] wohnen und acht Tage Ferien machen. Es gefällt ihnen so gut dort, daß sie nicht mehr nach Schandau wollen, wo sie sonst immer waren. [...] An meinem Geburtstag hatte mir Frau Bernfeld als Überraschung zwei Mann Musik bestellt, und so wurde es sehr gemütlich mit etwas Tanz usw.“ (Quelle 8)

Obwohl zwischen Werner und Nathan ein Altersabstand von mehr als 40 Jahren liegt, scheint sich eine tragende Freundschaft entwickelt zu haben. Auch einen Welpen der neuen Terrierhündin der Bernfelds nimmt Werner bei sich auf.

Am 19. Januar 1950 stirbt Nathan morgens in seiner Wohnung an einem Herzschlag.

„Mitten aus einem schaffensfrohen Leben, noch auf einer Dienstfahrt begriffen, verschied am 19.1.1950 durch Herzschlag unser so sehr verehrter Herr Werksdirektor Nathan Bernfeld im Alter von fast 78 Jahren. Uns trifft dieser Verlust so schmerzlich, weil wir in ihm nicht nur einen guten Kameraden und väterlichen Freund, sondern auch einen getreuen Mitarbeiter verloren haben. Ohne jede Rücksicht auf seine eigene Person setzte er sich mit seiner ganzen Kraft und Erfahrung für den Aufbau unseres Betriebes ein. Sein Andenken werden wir stets hoch in Ehren halten. Betriebsleitung und Belegschaft der Spremberger Textilwerke, Werk I, Spremberg L.“ (Quelle 9)

Ellen stirbt fünf Jahre später im Krankenhaus von Spremberg.

Weitere Informationen über Nathans Familie:

  • Sein älterer Bruder Samuel Bernfeld (*1867) wird Fabrikbeamter und heiratet 1908 die Jüdin Elsa Breitenfeld in Pardubice.1
Nathan BernfeldNathan Bernfeld

kurz-Biografie

17.05.1872Geburt – in Svitavka
Ostern 1886Abschluss der Oberrealschule in Brünn
1886Lehre zum Lumpenreißer
1897Abteilungsleiter Tuchfabrik in Sagan, Weiterbildung in Weberei
1908Direktor der Vereinigten Märkischen Tuchfabriken in Luckenwalde
1925Zuzug – nach Spremberg, Direktor der Tuchfabrik Schnabl
ab 1932Direktor der Tuchfabrik Michelsohn & Ascher
19.03.1932Heirat mit Ellen Hanisch in Berlin
09.11.1938Reichspogromnacht: Einbruch in seine Wohnung
10.11.1938Verlust seiner Arbeitsstelle als Tuchfabriksdirektor in Spremberg
19.09.1941Verpflichtung zum Tragen des "Judensterns"
1942Wohnungsverlust, Umzug innerhalb Sprembergs, Beschlagnahmung seines Vermögens
30.03.1942Zwangsarbeit bei "Lumpen-Krause" in Spremberg
16.02.1945Verhaftung, Zwangsarbeit in Berlin
08.05.1945Befreiung zum Kriegsende in Berlin, Rückkehr nach Spremberg
Mai 1945Umzug an den Friedrich-Engels-Platz
1946erster Direktor der Textilwerke I, Wiederaufbau
19.01.1950Todestag – in Spremberg
05.10.2023Stolpersteinverlegung – in der Pfortenstraße 13

Verbundene Personen

Bernfeld, EllenEhefrau
Schnabl, FamilieArbeitgeber
Kraus, SiegfriedArbeitgeber
Kraus, WernerGeschäftspartner
Michelsohn, MaxGeschäftspartner

Verbundene Orte

GeorgenhöheWohnort
PfortenstraßeWohnort, STOLPERSTEIN
letzter Wohnort
Berliner Straße 6Arbeitsort
Schlesische StraßeArbeitsort
Nathan BernfeldNathan Bernfeld

kurz-Biografie

17.05.1872Geburt – in Svitavka
Ostern 1886Abschluss der Oberrealschule in Brünn
1886Lehre zum Lumpenreißer
1897Abteilungsleiter Tuchfabrik in Sagan, Weiterbildung in Weberei
1908Direktor der Vereinigten Märkischen Tuchfabriken in Luckenwalde
1925Zuzug – nach Spremberg, Direktor der Tuchfabrik Schnabl
ab 1932Direktor der Tuchfabrik Michelsohn & Ascher
19.03.1932Heirat mit Ellen Hanisch in Berlin
09.11.1938Reichspogromnacht: Einbruch in seine Wohnung
10.11.1938Verlust seiner Arbeitsstelle als Tuchfabriksdirektor in Spremberg
19.09.1941Verpflichtung zum Tragen des "Judensterns"
1942Wohnungsverlust, Umzug innerhalb Sprembergs, Beschlagnahmung seines Vermögens
30.03.1942Zwangsarbeit bei "Lumpen-Krause" in Spremberg
16.02.1945Verhaftung, Zwangsarbeit in Berlin
08.05.1945Befreiung zum Kriegsende in Berlin, Rückkehr nach Spremberg
Mai 1945Umzug an den Friedrich-Engels-Platz
1946erster Direktor der Textilwerke I, Wiederaufbau
19.01.1950Todestag – in Spremberg
05.10.2023Stolpersteinverlegung – in der Pfortenstraße 13

Nathan Bernfeld kommt am 17. Mai 1872 in Svitavka/Mähren (heute Tschechien) als Sohn von Jacob Bernfeld und dessen Ehefrau Katharina geb. Hoffmann zur Welt. Er wächst mit mindestens sechs Geschwistern auf.

Über seinen Werdegang berichtet er selbst:

„In diesem Ort besuchte ich von meinem 6.-10. Lebensjahre die Dorfschule und von meinem 10.-14. Lebensjahre die deutsche Oberrealschule in Brünn. Im September 1886 wurde ich als Lehrling in der Tuchfabrik Moses Löw-Beer in Svitavka aufgenommen. Dort erlernte ich das Lumpensortieren und das Lumpenreißen. Im Jahre 1897 wurde ich von dieser Firma nach Sagan/Schlesien, die dort ein großes Unternehmen hatte, versetzt, um hier die Lumpensortiererei und Reißerei einzurichten. Während meiner dortigen Tätigkeit besuchte ich den Abendkursus der Webschule, um mich in der Weberei weiterzubilden.“ (Quelle 1)

Nathan arbeitet sich vom Lumpenreißer nach oben. Als er 36 Jahre alt ist, wird er Direktor der Vereinigten Märkischen Tuchfabriken in Luckenwalde. Dort lernt er auch seine zukünftige Ehefrau Ellen Hanisch kennen. Am 19. März 1932 heiraten Ellen und er in Berlin-Wilmersdorf. Vier Monate später wird die NSDAP zur stärksten Partei Deutschlands gewählt. Nathan ist zu diesem Zeitpunkt fast 50 Jahre alt, Ellen ist 34. Sie zieht zu Nathan nach Spremberg in die Georgenstraße 8. Nathan lebt schon seit sieben Jahren hier. Erst war er Direktor bei der Tuchfabrik Schnabl (Familie Schnabl hatte er in Sagan kennengelernt), nun ist er Direktor der Tuchfabrik Michelsohn & Ascher, die von Siegfried Kraus geführt wird. Siegfried Kraus stirbt 1937 plötzlich nach einem Nervenzusammenbruch unter dem Druck des NS-Regimes. Da sein Sohn Werner noch zu jung ist, veranlasst die Familie, dass Nathan Gesellschafter der Fabrik wird. Briefe von Werner Kraus sind eine wichtige Quelle über Nathans Leben. Nach dem Tod seines Vaters schreibt Werner:

„Es ist geplant: Bernfeld tritt als persönlich haftender Gesellschafter ein, und legt einiges Kapital mit an. […] Herr Bernfeld ist augenblicklich Leiter nach aussenhin, in Wirklichkeit nur mit mir zusammen[. …] Ich sehe die Zukunft gar nicht schwarz, ich glaube, durch gute Zusammenarbeit mit Herrn Bernfeld die Fabrik ganz gut zu leiten.“ (Quelle 2)

1937/38 reist Nathan im Zuge seiner Geschäfte mehrfach in die Schweiz. Auszuwandern scheint ihm dabei keine Option. Ab Januar 1938 dürfen „Arier“ in der mittlerweile „nichtarischen“ Tuchfabrik Michelsohn & Ascher nicht mehr einkaufen. Das würde einen Umsatzrückgang von 40% bedeuten. Dazu schreibt Werner:

„Wir führen augenblicklich einen Kampf mit dem Vorstand der [Arbeitsgemeinschaft Deutsch-Arischer Fabrikanten], um als Auslandsbetrieb anerkannt zu werden. Da Herr Bernfeld, der tschechoslowakischer Staatsangehöriger ist, als persönlich haftender Gesellschafter sozusagen als Inhaber der Firma gilt, ist es sehr leicht möglich, daß wir mit dem Antrag durchkommen. […] Herr Bernfeld hat sich schon mit seiner Botschaft in Verbindung gesetzt, die sofort beim Auswärtigen Amt wegen dieser Sache Einspruch erhoben hat, da es sich in diesem Falle um den Boykott eines tschechoslowakischen Staatsbürgers handelt. Was aber werden wird, weiß niemand. Wir wissen selber nicht mehr, wie wir uns verhalten sollen, denn was sich so tut...“ (Quelle 3)

Einen Monat vor der Reichspogromnacht 1938 soll die Tuchfabrik in Ludwig Sinapius einen neuen Gesellschafter bekommen, Nathan soll angeblich im Laufe von fünf Jahren ausbezahlt werden. Das Geld wird er nie erhalten. Zur Nacht des 9. Novembers 1938 schildert Nathan Bernfeld seine Erinnerungen:

„An dem berühmten 9. November 1938 kamen nachts gegen 2 Uhr ca. 15 halbwüchsige Hitlerjungen im Alter zwischen 12-19 Jahren in meine Wohnung in der Georgenstraße und forderten mich und meine Frau, die Arierin ist, auf, sämtliche Haus-, Wohnungs- und Schrankschlüssel etc. an sie abzugeben und die Wohnung sofort zu verlassen. Auf meine Rückfrage nach einem Ausweis, auf Grund welcher Anordnung das geschehen soll, wurde mir zur Antwort gegeben „auf höheren Befehl“, die Polizei wüsste Bescheid. Auf meinen Anruf bei der Polizei, was die Maßnahme zu bedeuten hätte, antwortete mir der Beamte, dass er davon absolut nichts wüsste. Ich übergab den Telefonhörer dem Hitlerjungen und dieser sagte dem Polizeibeamten, die Aktion geschehe auf höheren Befehl. Darauf riet mir der Beamte, dem Befehl zu gehorchen. Ich ging daher mit meiner Frau zur Polizei, wo mir gesagt wurde; dass ich für diese Nacht keine Unterkunft in einem Hotel etc. bekommen könnte, weshalb meine Frau und ich die Nacht im Büro der Firma Michelsohn & Ascher verbringen wollten. Als wir im Büro ankamen, läutete das Telefon, und es wurde mir von der Polizei mitgeteilt, dass wir zurückkommen könnten, da in meinem Falle ein Versehen vorliegt, da wir Ausländer d.h. tschechische Staatsangehörige sind. Die Schlüssel wurden mir wieder übergeben.“ (Quelle 1)

Am nächsten Morgen wird Nathan und Werner plötzlich der Zugang zur Fabrik verwehrt. Dazu schreibt Werner:

„Als wir früh in den Betrieb kamen, wurde uns der Zutritt zu demselben verweigert, von Seiten des „Obmannes“ Weiermüller und seinen Helfershelfern mit der Begründung, der Kreisleiter hätte den Betrieb beschlagnahmt und einen Treuhänder eingesetzt. So gingen wir dann wieder nach Hause, da wir ja nichts machen konnten. Als „Treuhänder“ wurde der größte Tagedieb von Spremberg, ein gewisser Rudolf Bär, Sohn des Schokoladen-Bär, eingesetzt, der sich zunächst mal eine Vergütung von RM 40.000. - auszahlen ließ, und dann lustig anfing zu liquidieren. […] Das Grundstück und die Gebäude mußten wir für RM 100.000. […] verkaufen, das Geld haben wir aber nie gesehen, es wurde angeblich zu[r] Abdeckung der Judenabgabe verwendet. […] Ich selbst wurde dann noch wegen meiner Zusammenarbeit mit Bernfeld vor das Ehren- und Disziplinargericht der DAF zitiert, die mir noch gern einen Strick gedreht hätten, indem sie mich auf einmal als Arier hinstellten, der mit Juden zusammengearbeitet und sich damit strafbar gemacht hätte. Jedoch klappte die Sache nicht so wie sich die Idioten das dachten, und ich bekam einen Freispruch wegen Mangel an Beweisen.“ (Quelle 4)

Das ist erst der Beginn der Schikane. Nathan berichtet weiterhin:

„Nach einigen Monaten wurde mir das Telefon gesperrt. Ferner kam eines Mittags die Polizei vorgefahren und holte meinen Radioapparat ab. Später musste ich meinen Hund sowie meinen Kanarienvogel abgeben. Wiederum nach einigen Monaten meine sämtlichen elektrischen Geräte, sogar das Bügeleisen.“ (Quelle 1)

Zu dieser Zeit kündigt ihm seine Vermieterin an, dass er aufgrund „der Verhältnisse“, wie sie es nennt, seine Wohnung in der Georgenstraße verlassen soll. Die Bernfelds wollen dem nachkommen, müssen aber feststellen, dass ihnen weder in Spremberg noch in Cottbus jemand eine andere Wohnung vermieten möchte. Sie überlegen, Spremberg ganz hinter sich zu lassen, aber erst will Nathan die Geschäfte in der Tuchfabrik ordentlich abwickeln. Noch hat er Hoffnung, dass Werner und er angemessen entschädigt werden. Die Vermieterin will das Ehepaar schließlich auf die Straße setzen. Nathan richtet sich hilfesuchend an den jüdischen Rechtsanwalt Hammerschmidt in Cottbus, der ihm noch eine Schutzfrist erwirken kann. Schließlich ergibt sich als einzige mögliche Bleibe die Pfortenstraße 8 bei Tuchfabrikant Heinze (heute ist das die Nr. 13). Dazu Bernfeld:

Es waren „durchaus unzureichende und ungesunde Leerzimmer, ohne Küche, ohne Herd, ohne Wasserleitung etc. […] Alle in dieser Wohnung nicht unterzubringenden Möbel wurden auf einem Speicher […] eingelagert. Einige Monate später wurde die Beschlagnahme dieser Möbel ausgesprochen.“ (Quelle 1)

Ab Herbst 1941 ist Nathan verpflichtet den gelben „Judenstern“ an seiner Kleidung zu tragen. Der Spremberger Klaus Rebelsky erinnert sich deshalb an eine Begegnung mit Nathan Bernfeld:

„Wir marschierten als Pimpfe auf dem ehemaligen Bahndamm am Ende der Bergstraße und uns kam ein älterer Herr entgegen, der an seinem Anzug den gelben Stern mit der Aufschrift 'Jude' trug. Der Pimpfenführer ließ uns in 6er Reihe ausschwärmen, womit wir den ganzen Bahndamm einnahmen und der alte Mann auf den Abhang herunter treten mußte, während wir das Lied vom Judenblut, das spritzen sollte, grölten. Das war 1942.“ (Quelle 5)

Nathan verliert schließlich seine tschechische Staatsangehörigkeit. Er schildert folgendes Geschehen:

„Im Januar 1942 kamen eines Tages vier Beamte der Gestapo Frankfurt/O., durchsuchten die Wohnung und fanden 200 Zigaretten und einige Stückchen englische Toilettenseife, die sie mitnahmen. Kurz nach der Hausuntersuchung wurde ich nach Frankfurt berufen und dort wurde mir die Mitteilung gemacht, dass ich als Staatsfeind erklärt würde und mein Vermögen sowie das Vermögen meiner Gattin beschlagnahmt und eingezogen würde, so dass ich über Nacht vor dem Nichts stand. Auf meine Frage, wovon ich leben solle, sagte mir der betreffende Beamte, ich müsste arbeiten gehen. Darauf fragte ich, wer mich als 70 jährigen Mann einstellen würde und erhielt die Antwort, das wäre meine Sache. Nach meiner Rückkehr nach Spremberg ging ich zum Arbeitsamt und da mich meine Fachkollegen, Herr Tempel usw. nicht einstellen wollten und durften, musste ich die ausgeschriebene Stellung als Lumpensortierer bei der Firma E. Krause % Co., Rohprodukte in Spremberg am 30.3.1942 antreten mit einem Wochenlohn von RM 25.- netto.“ (Quelle 1)

Ellen schreibt:

„Wir haben nichts behalten dürfen; mein Mann bezog auch keine Lebensmittelkarte. Ich hungerte mit ihm gemeinsam.“ (Quelle 6)

Sie leiden Hunger. Ellen wird zeitweise ebenfalls zum Lumpensortieren oder im Gartenbau zur Arbeit verpflichtet. Nathan wird zwischendurch mehrfach für kurze Zeit grundlos verhaftet und aus der Arbeit entlassen und dann wieder aufgenommen. Schließlich soll auch Werner Kraus, dem die Fabrik seiner Familie genommen wurde, zur Arbeit bei Lumpen-Krause geschickt werden.

„[Ich sollte] zu Lumpen-Krause, Lumpen sortieren (Herr Bernfeld war schon dort) aber da hatte man Angst, daß ich mit Bernfeld staatsgefährliche Umtriebe machen könnte.“ (Quelle 7)

Was Nathan über die kommenden Kriegsjahre hinweg rettet, ist seine scheinbar unbeirrbare Ehefrau Ellen. Obwohl nicht-jüdische Ehepartnerinnen großem Druck ausgesetzt sind, zum Beispiel indem sie noch weniger Lebensmittelmarken erhalten, lässt sich Ellen nicht scheiden und Nathan bleibt unter dem Schutz der Ehe mit einer sogenannten Arierin. Später schreibt Ellen in einem Lebenslauf dazu:

„Ich hielt zu meinem Manne und bin fünf Mal zur Gestapo nach Frankfurt/Oder befohlen worden, um zu erzwingen, dass ich mich von meinem jüdischen Ehemanne scheiden lasse. Mein Mann war gut zu mir, ich hatte keine Veranlassung mich von ihm zu trennen und so habe ich von 1933 bis 1945 alle Qualen der Judenverfolgung an der Seite meines Mannes miterlebt.“ (Quelle 6)

Nathan erinnert sich, dass die Gestapo-Mitglieder zu seiner Frau sagten:

„Wenn sie auch der Jude versaut hat, wir machen wieder eine reindeutsche Frau aus ihnen.“

Und als sie standhaft blieb, drohten sie:

„Das werden Sie büßen.“ (Quelle 1)

Am 16. Februar 1945 steht nachmittags halb vier plötzlich die Kripo Spremberg vor Bernfelds Tür in der Pfortenstraße. Sie nehmen Nathan mit und bringen ihn in das letzte Berliner Sammellager in der Schulstraße 78. Er wird verprügelt und muss mit seinen 72 Jahren nun im schwer umkämpften Berlin beschädigte Dächer reparieren, Ziegelsteine schleppen und Abputzen. Werner Kraus schildert die letzten Kriegstage:

„[Bernfeld] war auch noch im Lager gewesen, war dann kurz vor dem Zusammenbruch glücklicherweise durch seine Frau dort aufgefischt worden und war zu Fuss von Luckenwalde bis hier her gelaufen.“ (Quelle 8)

Nach Kriegsende befinden sich nur nur ca. 1200 Spremberger*innen in Spremberg. Alle anderen sind geflohen. Auch Werner hat die letzten Kriegsjahre auf dem Land ausgeharrt. Als er im Mai 1945 nach Spremberg kommt, sind Bernfelds seine einzigen Bekannten dort. Ihnen wurde Wohnung im letzten noch stehenden Haus am Friedrich-Engels-Platz zugewiesen, der Nummer 5:

„[Ich] wurde auch sehr nett aufgenommen, und konnte dort wohnen und Frau B[ernfeld] kochte für mich mit. Ich hatte ja einige Lebensmittel aus Schl[ottwitz] mitgebracht und ging nun erst mal auf Kartoffeltour, was auch klappte, so dass wir jeden Abend pro Mann 4 Kartoffeln mit Salz essen konnten.“ (Quelle 8)

Als Werner sein eigenes Haus in der Drebkauer Straße wieder beziehen kann, bringt Nathan zur Einweihungsfeier Brot und Salz

„mit dem Wunsche, daß es in meinem Hause nie ausgehen möge, was ich als den besten Wunsch und Symbol betrachte.“ (Quelle 9)

Ein Jahr später bekommen Nathan und Werner Kraus den übriggebliebenen Trümmerhaufen, wie Werner es nennt, der Firma Michelsohn & Ascher wieder zugesprochen. Außerdem bemühen sie sich um eine Übernahme der Tuchfabrik Fr. Wilh. Heinze, deren Eigentümer als Kriegsverbrecher enteignet worden ist. Dort wird Nathan jedenfalls der erste Fabrikdirektor nach dem Krieg und ist maßgeblich am (Wieder-)Aufbau der Spremberger Textilwerke beteiligt. Ellen schreibt:

„Als anerkannter Fachmann setzte er sich mit all seinen ihm verbliebenen Kräften für den Wiederaufbau der zertrümmerten Tuchstadt Spremberg ein. (Quelle 6)

Aus der Armut schaffen sie es trotzdem nicht wieder heraus. Ihr eingezogenes Vermögen bekommen sie nicht zurückerstattet. Sie beantragen als Verfolgte des Naziregimes anerkannt zu werden. Zusammenfassend schreibt Ellen dazu:

„Wir beide sind ständig seit 1933 von der Polizei, insbesondere von der Gestapo Frankfurt/Oder schwer gedemütigt worden. Unaufhörliche Durchsuchungen, wiederholte Verhaftungen, völlig verarmt, von allen gemieden, verbrachten wir 12 schwere Jahre.“ (Quelle 6)

Es bürgen für sie der Bürgermeister der Stadt Spremberg, Richard Buder, Frau Maria Thümmel geb. Nakoinz, Dr. Werner Joel und Berthold Gäßner, Werner Kraus, Alwin Hartmann und Willi Barwisch. Sie alle sagen aus, dass das Paar viel ertragen musste und Ellen dabei immer zu Nathan hielt. Nathan wurden drei Schwestern, drei Brüder und sechs Neffen im Holocaust genommen.

In den Nachkriegsjahren erwähnt Werner die Eheleute Bernfeld nur noch im Zusammenhang mit schönen Erlebnissen:

„Neujahr [werde ich] wahrscheinlich mit Bernfelds in Bad Schandau [verleben], wo wir uns austoben wollen. [...] Nach meinem Geburtstag, mit nettem Essen und ausgezeichneter Stimmung war am 16. Januar Geburtstag bei Frau Bernfeld, der auch bis 5 Uhr dauerte. [...] Am 17. Mai hat Herr Bernfeld 75. Geburtstag, da wird auch allerhand los sein. Pfingsten habe ich in Schlottwitz verlebt, zusammen mit Bernfelds, die mitgekommen waren. Wir haben sehr nette Tage verbracht, zumal wir ausgezeichnetes Wetter hatten. [...] Bernfelds sind diese Woche in Schlottwitz, wo sie bei Lotte [meiner Verlobten] wohnen und acht Tage Ferien machen. Es gefällt ihnen so gut dort, daß sie nicht mehr nach Schandau wollen, wo sie sonst immer waren. [...] An meinem Geburtstag hatte mir Frau Bernfeld als Überraschung zwei Mann Musik bestellt, und so wurde es sehr gemütlich mit etwas Tanz usw.“ (Quelle 8)

Obwohl zwischen Werner und Nathan ein Altersabstand von mehr als 40 Jahren liegt, scheint sich eine tragende Freundschaft entwickelt zu haben. Auch einen Welpen der neuen Terrierhündin der Bernfelds nimmt Werner bei sich auf.

Am 19. Januar 1950 stirbt Nathan morgens in seiner Wohnung an einem Herzschlag.

„Mitten aus einem schaffensfrohen Leben, noch auf einer Dienstfahrt begriffen, verschied am 19.1.1950 durch Herzschlag unser so sehr verehrter Herr Werksdirektor Nathan Bernfeld im Alter von fast 78 Jahren. Uns trifft dieser Verlust so schmerzlich, weil wir in ihm nicht nur einen guten Kameraden und väterlichen Freund, sondern auch einen getreuen Mitarbeiter verloren haben. Ohne jede Rücksicht auf seine eigene Person setzte er sich mit seiner ganzen Kraft und Erfahrung für den Aufbau unseres Betriebes ein. Sein Andenken werden wir stets hoch in Ehren halten. Betriebsleitung und Belegschaft der Spremberger Textilwerke, Werk I, Spremberg L.“ (Quelle 9)

Ellen stirbt fünf Jahre später im Krankenhaus von Spremberg.

Weitere Informationen über Nathans Familie:

  • Sein älterer Bruder Samuel Bernfeld (*1867) wird Fabrikbeamter und heiratet 1908 die Jüdin Elsa Breitenfeld in Pardubice.1

Verbundene Personen

Bernfeld, EllenEhefrau
Schnabl, FamilieArbeitgeber
Kraus, SiegfriedArbeitgeber
Kraus, WernerGeschäftspartner
Michelsohn, MaxGeschäftspartner

Verbundene Orte

GeorgenhöheWohnort
PfortenstraßeWohnort, STOLPERSTEIN
letzter Wohnort
Berliner Straße 6Arbeitsort
Schlesische StraßeArbeitsort

Quellenangaben

Brandenburgisches Landeshauptstaatsarchiv:

  • Quelle 1: BLHA, 801 RdB Ctb VdN-149, Bernfeld, *Nathan (Akte).
  • Quelle 6: BLHA, 801 RdB Ctb VdN-149, Bernfeld, *Ellen (Akte).
  • 36A 4117; Bernfeld, Nathan; 1942-1944 (Akte).

Archiv Heimatmuseum des Kreises Spremberg:

  • Wolfgang Noatschk/Uwe Lehnig-Habrik/Gerd-Detlef Marsch: Hausarbeit „Erarbeitung eines Lebensbildes zur Person Nathan Bernfeld“, Welzow 1986.

Archiv der Ahnenforschungsdatenbank ancestry.de:

  • Heiratseintrag Berlin-Wilmersdorf, Bernfeld/Hamisch, 229/1932.

Das Bundesarchiv:

  • Deutsche Minderheiten Volkszählung 1939, VZ299565 und VZ299566

Stadtarchiv Spremberg:

  • Quelle 9: Spremberger Anzeiger 1950, Nachruf auf Nathan Bernfeld.
  • Spremberger Adressbücher von 1932 und 1936.

Standesamt Spremberg:

  • Sterbeeintrag Nathan Bernfeld, 16/1950.
  • Sterbeeintrag Ellen Bernfeld, 42/1955.

Datenbank von JewishGen.org:

Sekundärliteratur:

  • Jan Schmidt (Hrsg.): Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 Vols): Der Deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus Und Sein Briefwechsel Im Türkischen Exil, Leiden 2014, > Quelle 2: S. 61f.; Quelle 3: S. 175; Quelle 4: S. 1162f.; Quelle 5: S. 1181; Quelle 7: 1195; Quelle 8: S. 1343; Quelle 9: S. 1211, 1230, 1254, 1274, 1306, 1394.
  • Klaus Rebelsky: Die jüdischen Mitbürger von Spremberg, in: Spremberger Kulturbund e.V./Stadtverwaltung Spremberg (Hrsg.): Heimatkalender 2002, Stadt Spremberg und Umgebung, Cottbus 2002. > Quelle 5: S. 56.

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