Siegfried Kraus (1870-1937)

Siegfried Kraus wird 27. September 1870 als achtes von neun Kindern des Moritz Kraus und seiner Frau Amalia geb. Trebitsch in Wien geboren.1 Nach jüdischer Tradition wird er mit acht Tagen in der jüdischen Gemeinde zu Wien beschnitten. Siegfrieds Vater arbeitet als Holzhändler und später als Beamter in Wien.2

Mit nur 17 Jahren zieht der Kaufmann Siegfried ohne seine Familie nach Spremberg, konvertiert zum evangelischen Glauben und nimmt die preußische Staatsangehörigkeit an.3

Am 22. Mai 1909 heiratet er in Spremberg die Lehrerstochter Ilse Karge, und zwar standesamtlich und kirchlich in der Stadtkirche am selben Tag. Mittlerweile ist Siegfried Fabrikbesitzer und wohnt in der Wilhelmstraße 30, Ilse wohnt nur ein paar Häuser weiter.4

Die Familie baut sich ein gemeinsames Leben in der Drebkauer Str. 1c auf.5 In Spremberg kommen ihre Söhne Rudolf (*1910) und Werner (*1916) zur Welt.6

Spätestens ab 1933 ist Siegfried der Geschäftspartner von Max Michelsohn und dessen Kommanditgesellschaft „Michelsohn & Ascher“ sowie der gleichnamigen Tuchfabrik in Spremberg. In der Fabrik arbeitet zu jener Zeit Nathan Bernfeld als Direktor.7 Ab 1933 wird das Leben und Arbeiten in Spemberg für Siegfried und seine Familie immer schwieriger. Als Grund dafür ziehen die Menschen im NS-Regime Siegfrieds jüdische Wurzeln heran.

1937 muss sein Sohn Rudolf Deutschland verlassen, weil ihm als studierter Assyriologe schon 1933 die Lebensgrundlage entzogen wurde. Für jene Wissenschaft zu den Hochkulturen Vorderasiens gibt es keine Erlaubnis zum Lehren und Forschen mehr. Siegfried und Ilse verabschieden ihren Sohn, der ins Exil in die Türkei gehen will, und gleich darauf erleidet Siegfried einen „seelischen Zusammenbruch“8, wie der Arzt sagen wird.

Am 2. August 1937 stirbt Siegfried im Cottbuser Krankenhaus im Alter von 66 Jahren. Auf dem Waldfriedhof zu Spremberg wird er bestattet.9 Nach dem Ereignis schreibt Ilse an den Sohn in Istanbul:

“Es wird mir ungeheuer schwer, lieber Rudolf, dir mitzuteilen, daß 3 Tage nach deiner Abreise Vati plötzlich nicht mehr gut laufen konnte und über große Schmerzen klagte. Hier wollte er keinen Arzt zu Rate ziehen und wir haben ihn auf seinen Wunsch in das Cottbuser Krankenhaus gebracht. Wir haben ihn des öfteren besucht. Am Montag den 2.8. Nachmittag gefiel er mir gar nicht besonders. Sein Haupt war schwer und seine Augen ziemlich matt. Seine sonstige Teilnahme an Allem war aber noch sehr rege. Gegen halb 8 Uhr abends wurden wir vom Krankenhaus angerufen und uns mitgeteilt, daß Vati kurz vorher einem Herzschlag erlegen sei. [...]

Dem Wunsche von Vati entsprechend, fand am Donnerstag, den 5.8. Vormittag um 11 Uhr die Einäscherung im Forster Krematorium statt, verbunden mit einer ganz einfachen, schlichten Trauerfeier. - Die Urne mit der Asche wird in der nächsten Woche auf dem Waldfriedhof in Spremberg beigesetzt. - Mir selbst scheinen die letzten Tage wie ein böses Traumbild.“10

Rudolf schreibt über seinen Vater, nachdem er die Nachricht erhielt:

“Unser Vater hat sich im Kampfe gegen die Zeit und für seine Familie still und ihm selbst voll bewußt aufgezehrt.“11

Auch Siegfrieds ganze Wiener Verwandtschaft schreibt in diesen Tagen viele Briefe mit Ilse hin und her. Manche seiner Angehörigen sind bereits dem NS-Regime entflohen und Leben in den USA in Chicago und Los Angeles. Sie sind bestürzt und wollen genaue Auskunft über den Tod ihres Bruders und Onkels.12

  1. Vgl. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, Seite 1; vgl. Stadtarchiv Spremberg, Heiratsregister Standesamt Bagenz Kreis Spremberg, Traueintrag für Siegfried Kraus und Ilse Karge 1909.
  2. Vgl. Stadtarchiv Wien, Geburtsbuch für die israelitische Cultusgemeinde in Wien, Siegfried Kraus 1870 und Einträge für andere Kinder von Moritz Kraus.
  3. Vgl. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, Seite 1.
  4. Vgl. Stadtarchiv Spremberg, Heiratsregister Standesamt Bagenz Kreis Spremberg, Traueintrag für Siegfried Kraus und Ilse Karge 1909; vgl. Archiv der Kreuzkirche Spremberg, Trauungen Stadt, Traueintrag für Siegfried Kraus und Ilse Karge 1909.
  5. Vgl. Stadtarchiv Spremberg, Adressbücher von 1932 und 1936.
  6. Vgl. Archiv der Kreuzkirche Spremberg, Taufen Stadt, Taufeintrag für Rudolf Kraus 1910 und Werner Kraus 1916.
  7. Vgl. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 1.
  8. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 61.
  9. Vgl. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 1.
  10. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 59.
  11. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 77.
  12. Vgl. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 78, 91.

kurz-Biografie

27.09.1870Geburt – in Wien
05.10.1870Beschneidung in der jüdischen Gemeinde Wien
1887Zuzug – nach Spremberg, Konversion vom Judentum zum Protestantismus, Annahme Preußische Staatsbürgerschaft
spätestens 1909Fabrikbesitzer in Spremberg
22.05.1909Eheschließung – mit Ilse Karge in Spremberg
01.06.1909Aufbau des Familienanwesens in Spremberg
21.03.1910Geburt – von Sohn Rudolf in Spremberg
12.01.1916Geburt – von Sohn Werner in Spremberg
spätestens ab 1933Geschäftspartner der Firma Michelsohn & Ascher in Spremberg
02.08.1937Todestag – im Krankenhaus Cottbus aufgrund eines Nervenzusammenbruchs wegen Flucht des Sohnes Rudolf ins Exil
August 1937Beisetzung auf dem Waldfriedhof Spremberg

Verbundene Personen

Kraus, RudolfSohn
Kraus, WernerSohn
Michelsohn, MaxGeschäftspartner
Bernfeld, NathanArbeitnehmer

Verbundene Orte

Geschwister-Scholl-StraßeWohnort
Drebkauer Straßeletzter Wohnort, zukünftiger STOLPERSTEIN
Schlesische StraßeArbeitsort

kurz-Biografie

27.09.1870Geburt – in Wien
05.10.1870Beschneidung in der jüdischen Gemeinde Wien
1887Zuzug – nach Spremberg, Konversion vom Judentum zum Protestantismus, Annahme Preußische Staatsbürgerschaft
spätestens 1909Fabrikbesitzer in Spremberg
22.05.1909Eheschließung – mit Ilse Karge in Spremberg
01.06.1909Aufbau des Familienanwesens in Spremberg
21.03.1910Geburt – von Sohn Rudolf in Spremberg
12.01.1916Geburt – von Sohn Werner in Spremberg
spätestens ab 1933Geschäftspartner der Firma Michelsohn & Ascher in Spremberg
02.08.1937Todestag – im Krankenhaus Cottbus aufgrund eines Nervenzusammenbruchs wegen Flucht des Sohnes Rudolf ins Exil
August 1937Beisetzung auf dem Waldfriedhof Spremberg

Siegfried Kraus wird 27. September 1870 als achtes von neun Kindern des Moritz Kraus und seiner Frau Amalia geb. Trebitsch in Wien geboren.1 Nach jüdischer Tradition wird er mit acht Tagen in der jüdischen Gemeinde zu Wien beschnitten. Siegfrieds Vater arbeitet als Holzhändler und später als Beamter in Wien.2

Mit nur 17 Jahren zieht der Kaufmann Siegfried ohne seine Familie nach Spremberg, konvertiert zum evangelischen Glauben und nimmt die preußische Staatsangehörigkeit an.3

Am 22. Mai 1909 heiratet er in Spremberg die Lehrerstochter Ilse Karge, und zwar standesamtlich und kirchlich in der Stadtkirche am selben Tag. Mittlerweile ist Siegfried Fabrikbesitzer und wohnt in der Wilhelmstraße 30, Ilse wohnt nur ein paar Häuser weiter.4

Die Familie baut sich ein gemeinsames Leben in der Drebkauer Str. 1c auf.5 In Spremberg kommen ihre Söhne Rudolf (*1910) und Werner (*1916) zur Welt.6

Spätestens ab 1933 ist Siegfried der Geschäftspartner von Max Michelsohn und dessen Kommanditgesellschaft „Michelsohn & Ascher“ sowie der gleichnamigen Tuchfabrik in Spremberg. In der Fabrik arbeitet zu jener Zeit Nathan Bernfeld als Direktor.7 Ab 1933 wird das Leben und Arbeiten in Spemberg für Siegfried und seine Familie immer schwieriger. Als Grund dafür ziehen die Menschen im NS-Regime Siegfrieds jüdische Wurzeln heran.

1937 muss sein Sohn Rudolf Deutschland verlassen, weil ihm als studierter Assyriologe schon 1933 die Lebensgrundlage entzogen wurde. Für jene Wissenschaft zu den Hochkulturen Vorderasiens gibt es keine Erlaubnis zum Lehren und Forschen mehr. Siegfried und Ilse verabschieden ihren Sohn, der ins Exil in die Türkei gehen will, und gleich darauf erleidet Siegfried einen „seelischen Zusammenbruch“8, wie der Arzt sagen wird.

Am 2. August 1937 stirbt Siegfried im Cottbuser Krankenhaus im Alter von 66 Jahren. Auf dem Waldfriedhof zu Spremberg wird er bestattet.9 Nach dem Ereignis schreibt Ilse an den Sohn in Istanbul:

“Es wird mir ungeheuer schwer, lieber Rudolf, dir mitzuteilen, daß 3 Tage nach deiner Abreise Vati plötzlich nicht mehr gut laufen konnte und über große Schmerzen klagte. Hier wollte er keinen Arzt zu Rate ziehen und wir haben ihn auf seinen Wunsch in das Cottbuser Krankenhaus gebracht. Wir haben ihn des öfteren besucht. Am Montag den 2.8. Nachmittag gefiel er mir gar nicht besonders. Sein Haupt war schwer und seine Augen ziemlich matt. Seine sonstige Teilnahme an Allem war aber noch sehr rege. Gegen halb 8 Uhr abends wurden wir vom Krankenhaus angerufen und uns mitgeteilt, daß Vati kurz vorher einem Herzschlag erlegen sei. [...]

Dem Wunsche von Vati entsprechend, fand am Donnerstag, den 5.8. Vormittag um 11 Uhr die Einäscherung im Forster Krematorium statt, verbunden mit einer ganz einfachen, schlichten Trauerfeier. - Die Urne mit der Asche wird in der nächsten Woche auf dem Waldfriedhof in Spremberg beigesetzt. - Mir selbst scheinen die letzten Tage wie ein böses Traumbild.“10

Rudolf schreibt über seinen Vater, nachdem er die Nachricht erhielt:

“Unser Vater hat sich im Kampfe gegen die Zeit und für seine Familie still und ihm selbst voll bewußt aufgezehrt.“11

Auch Siegfrieds ganze Wiener Verwandtschaft schreibt in diesen Tagen viele Briefe mit Ilse hin und her. Manche seiner Angehörigen sind bereits dem NS-Regime entflohen und Leben in den USA in Chicago und Los Angeles. Sie sind bestürzt und wollen genaue Auskunft über den Tod ihres Bruders und Onkels.12

  1. Vgl. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, Seite 1; vgl. Stadtarchiv Spremberg, Heiratsregister Standesamt Bagenz Kreis Spremberg, Traueintrag für Siegfried Kraus und Ilse Karge 1909.
  2. Vgl. Stadtarchiv Wien, Geburtsbuch für die israelitische Cultusgemeinde in Wien, Siegfried Kraus 1870 und Einträge für andere Kinder von Moritz Kraus.
  3. Vgl. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, Seite 1.
  4. Vgl. Stadtarchiv Spremberg, Heiratsregister Standesamt Bagenz Kreis Spremberg, Traueintrag für Siegfried Kraus und Ilse Karge 1909; vgl. Archiv der Kreuzkirche Spremberg, Trauungen Stadt, Traueintrag für Siegfried Kraus und Ilse Karge 1909.
  5. Vgl. Stadtarchiv Spremberg, Adressbücher von 1932 und 1936.
  6. Vgl. Archiv der Kreuzkirche Spremberg, Taufen Stadt, Taufeintrag für Rudolf Kraus 1910 und Werner Kraus 1916.
  7. Vgl. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 1.
  8. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 61.
  9. Vgl. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 1.
  10. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 59.
  11. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 77.
  12. Vgl. Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil, 78, 91.

Verbundene Personen

Kraus, RudolfSohn
Kraus, WernerSohn
Michelsohn, MaxGeschäftspartner
Bernfeld, NathanArbeitnehmer

Verbundene Orte

Geschwister-Scholl-StraßeWohnort
Drebkauer Straßeletzter Wohnort, zukünftiger STOLPERSTEIN
Schlesische StraßeArbeitsort

Quellenangaben

Stadtarchiv Spremberg:

  • Heiratsregister Standesamt Bagenz Kreis Spremberg, Traueintrag für Siegfried Kraus und Ilse Karge 1909.
  • Adressbücher von 1932 und 1936.

Archiv der Kreuzkirche Spremberg:

  • Trauungen Stadt, Traueintrag für Siegfried Kraus und Ilse Karge 1909.
  • Taufen Stadt, Taufeintrag für Rudolf Kraus 1910 und Werner Kraus 1916.

Stadtarchiv Wien:

  • Geburtsbuch für die israelitische Cultusgemeinde in Wien, Siegfried Kraus 1870 und Einträge für andere Kinder von Moritz Kraus.

Sekundärliteratur:

  • Jan Schmidt (Hrsg.), Dreizehn Jahre Istanbul (1937-1949) (2 vols): Der deutsche Assyriologe Fritz Rudolf Kraus und sein Briefwechsel im türkischen Exil.